Da es in vielen Berggebieten immer häufiger zu Murenabgängen oder anderen hydrogeologisch bedingten Ereignissen kommt, ist die Stabilisierung von Berghängen ein hochinteressantes Thema sowohl für Gebietsmanager als auch für Techniker (Ingenieure) und auf diesem Gebiet tätige Wissenschaftler.
Im Fall der Alpen sind solche Phänomene sowohl durch den Klimawandel bedingt, dessen Auswirkungen sich in immer häufigeren Extremwetterereignissen zeigen, als auch durch die Aufgabe von best practices bei der Bewirtschaftung des Bodens aufgrund der kontinuierlichen Abwanderung aus Berggebieten, eine Entwicklung, die sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt hat und die noch immer anhält. Obwohl Rutschungen von Schuttkaren nicht die wichtigste hydrogeologische Gefahr sind, haben die jüngsten, durch den Klimawandel verursachten Störungen des Gleichgewichts zu erheblichen Problemen gerade damit geführt. Oft sind die so gefährdeten Gebiete von touristischem oder naturkundlichem Interesse, so insbesondere auch die Dolomiten. So hat beispielsweise 2016 ein Unwetter mit Starkregen und Hagel eine Mure in den Karen des Monte Pelmo in den Dolomiten des Val di Zoldo ausgelöst und die Forststraße von Tiera hinauf zum Rifugio Venezia teilweise und den Weg Nr. 480 ins Val d’Arcia an einigen Stellen unbegehbar gemacht; beides sind touristisch stark frequentierte und zum Zeitpunkt des Unglücks (August 2016) gut besuchte Gebiete. Zahlreiche weitere solche Fälle wurden in den letzten Jahren verzeichnet.
Stabilisierende Maßnahmen sind an solchen Standorten oft schwierig, und zwar sowohl aufgrund der möglichen Auswirkungen auf die Landschaft (mit den absehbaren Folgen für den Tourismus) als auch aufgrund der Besonderheiten des Ökosystems in solchen Gebieten: sehr magerer, durch das Karbonatgestein stark basischer Boden und ausgeprägte Temperaturschwankungen. Ingenieurbiologische Lösungen, das heißt der Einsatz von lebenden Organismen und umweltverträglichen Werkstoffen für Hangverbauungen sind ein Fortschritt gegenüber den herkömmlichen wasserbaulichen Maßnahmen; sie reduzieren die Auswirkungen auf Landschaft und Umwelt auf ein Minimum, müssen aber trotzdem sehr umsichtig geplant werden. Die für diese ingenieurbiologischen Bauweisen im Handel erhältlichen gängigen Samenmischungen enthalten in der Tat für Mittelgebirgslagen geeignete Pflanzen, die sich nur mit größter Mühe an die Standorte in Schuttkaren anpassen bzw. sogar mit der einheimischen Flora konkurrieren und so erhebliche Schäden an der alpinen Artenvielfalt verursachen. Vor Kurzem wurden nun Empfehlungen für eine Reihe von best practices für die Fachleute, die ingenieurbiologische Maßnahmen planen und umsetzen, vorgelegt und es wurden einige kritische Faktoren herausgestellt, die von der Wissenschaft angegangen werden müssten, um solche Maßnahmen erfolgreicher zu machen.
Dazu zählt die biotechnische und ökologische Erforschung „neuer“ Pionierpflanzenarten zur Anwendung im Lebendverbau, Pflanzen, die nicht nur den Boden stabilisieren, sondern auch die spontane Pflanzensukzession ohne Störung der ökosystemregulierenden Mechanismen und Prozesse beschleunigen könnten. Vor diesem Hintergrund hat das Forschungszentrum CrC Ge.S.Di.Mont von UNIMONT, der Außenstelle der Universität Mailand, die Studie Alpine Pioneer Plants in Soil Bioengineering for Slope Stabilization and Restoration: Results of a Preliminary Analysis of Seed Germination and Future Perspectives über diese Pflanzen auf den Weg gebracht und in diesem Rahmen ihre Keimfähigkeit ex situ, d.h. außerhalb ihres angestammten Lebensraums untersucht. Der Blick richtet sich dabei auf den Gedanken, sie für die Stabilisierung von Schuttkaren einzusetzen. Neun alpine Pflanzen (Papaver aurantiacum, Rumex scutatus, Tofieldia calyculata, Pulsatilla alpina, Silene glareosa, Adenostyles alpina, Dryas octopetala, Laserpitium peucedanoides e Laserpitium krapfii) wurden getestet; bei einigen, wie Dryas octopetala, wurde eine hohe Keimfähigkeit auch ohne den Zusatz von Phytohormonen oder anderen Substanzen nachgewiesen.
Weitere biologische und bautechnische Studien werden erforderlich sein, um die Möglichkeit des Einsatzes dieser und anderer alpiner Pflanzen für die Hangverbauung zu konkretisieren und Verzeichnisse von Arten, deren wesentliche, für die Ingenieurbiologie günstige Eigenschaften bekannt sind, zu erstellen. Des Weiteren werden präzise Vorschriften zu erarbeiten sein, mit denen eindeutig festgelegt wird, welche Samen- bzw. Pflanzentypen für unterschiedliche Maßnahmen zu verwenden sind, so dass, wie bereits in anderen Ländern des Alpenraums, für ingenieurbiologische Verbauungen ausschließlich einheimische Saaten bzw. Pflanzen verwendet werden dürfen. Die Vermeidung von Erosion und die Erhaltung der Qualität der Landschaft sind in der Tat sowohl für den Winter- als auch den Sommertourismus von grundlegender Bedeutung.
Valeria Leoni¹, Luca Giupponi¹, Anna Giorgi¹
¹Ge.S.Di.Mont. - Exzellenzcluster UNIMONT- Edolo - www.unimontagna.it